Das Kreuz tragen
Frage: Es bleibt keine Zeit, die wahren Angstzustände anzugehen. Oder besser: die Weisheit auf Gesellschaftsebene ist uns abhanden gekommen. Jeder soll nur noch jung, dynamisch und happy sein. Der Standard ist krank. Keine Bereitwilligkeit mehr, das Kreuz zu tragen.
Saritha: Ja, die Qualität des Bewahrens, der Vishnukraft, ist fast verloren gegangen. Der Mensch ist nicht bereit, Intensität und Intimität zuzulassen, vor allem, wenn es um den Kontakt mit sich selbst geht. Das Kreuz zu tragen ist für mich die Qualität des Bewahrens und hier findet Entwicklung und innere Auferstehung statt.
Frage: So ist es für mich auch. Ich hätte es so nicht benannt, doch Entwicklung und innere Auferstehung – diese Worte sind mir vertraut. Mit Bewahren muss ich noch umgehen. Gibt es hier noch einen Hinweis? Bewahren – einfach damit sein, annehmen, was ist? Was ist damit gemeint?
Saritha: Bewahren bedeutet, mit allem solange sein zu können, bis die Sättigung erreicht ist und es sich dadurch aus sich selbst heraus wandelt. Die Kraft des Feuers aufsteigen lassen zu können, die Bereitschaft, es geschehen zu lassen. Es ist vielmehr die Haltung, damit zu sein.
Frage: Wie kann man sein Kreuz tragen, wenn es noch nicht einmal gereicht worden ist, geschweige denn, geschultert? Mir scheint, ich stehe vor dem Kreuz, doch die Qualität des Bewahrens hat noch nicht einmal begonnen. Ohne Beginn keine Sättigung. Also, mentale Bereitschaft zu tragen, auch wenn kein Gewicht innerer Umwandlungskräfte spürbar sind? Du hast wahrscheinlich schon in der Kindheit das Kreuz geschultert bekommen…
Saritha: Ja, die meisten Menschen stehen nicht vor dem Kreuz. Ein paar wenige davor. Kaum einer hat es geschultert und fast niemand ist bereit, in innere Sättigung zu gehen. Fast niemand kennt diese Gnade von Intensität und Intimität, die Gnade des freien Falls in all dem.
Frage: „Kreuzzeugen, die nicht vorüberzogen. Kreuzzeugen, die stehengeblieben und schweren Schulters weitergegangen. Kreuzzeugen, den ganzen Weg durch Last zum Licht“
Saritha: Tatsächlich geschieht in einem aufrichtigen Stehenbleiben, das einen Sehnsuchtsimpuls in sich trägt, keine Schwere auf den Schultern. Es ist auch keine Last. Denn mit einem echten Sehnsuchtsimpuls ist der weglose Weg, der paradoxe Weg, geöffnet, und dies geht immer mit einem Einverstandensein einher. Es zeigt sich vielmehr ein „Wohlweh“, ohne eine Last zu sein. Dieses Einverstandensein reift bis zu der Selbstverständlichkeit, mit allem zu sein, berührbar und direkt.
Frage: Gehen nicht Zeiten der Einsamkeit voraus, bis es lichter wird? Und sei es das nicht mehr Mitspielen-können im Ablenkungsspiel der Welt? Eine Einsamkeit im Verständnis der Machtlosigkeit gegenüber der materiellen/sinnesbesessenen Menschheit im Leugnen allen Geistigen?
Saritha: All das zeigt sich, ja, in einem Mix aus Verständnis und Ärger. Und das Geheimnis, einen Weg wirklich zu gehen- als Erfahrungsweg-, bringt alle Kräfte des Universums in Bewegung. Alles steht zur Verfügung. Es ist wie bei Antoine de saint-exupèry: man lässt sich ein und macht es sich vertraut.
Saritha, 2021